«Wie man zum Berg ruft,
so schwingt es zurück.»
Natur- und Borduntöne
Naturtöne schlummern im Ur-Inneren. Seit Jahrtausenden nutzen Menschen ihre Stimme und andere Instrumente, um ihre Verbundenheit mit ihrer Umwelt und der Natur kunstvoll auszudrücken. Auch der Naturjodel, wie er rund um den Alpstein erklingt, ist von diesem Geist beseelt. In seiner reinen Form kommt er ohne Worte aus.
Naturtöne kommen – wenn sie authentisch vorgetragen sind – aus dem Herzen und berühren jene, die sie hören, ebenfalls dort. Im Grunde sind alle Menschen dazu veranlagt, Naturtöne zu erzeugen. Wir alle tragen sie in uns, in ihnen steckt eine Urkraft.
Oft werden Naturtonfolgen oder -melodien von sogenannten Borduntönen untermalt. Dabei kann es sich um eine einzelne oder mehrere Begleitstimmen handeln, die in der Regel etwas tiefer ansetzen als die Hauptstimme und so einen Klangteppich bilden. Im Naturjodel spricht man auch von «graadhäbe».
Stimme
Beim Stricken oder beim Melken, beim Wandern oder beim Warten, am Stammtisch oder unter der Dusche: Die Stimme – alleine oder im Chor – ist das älteste Musikinstrument der Menschen.
Naturjodel
Der Naturjodel ist für die gesamte Region um den Alpstein identitätsbildend und eng mit der Volkskultur verbunden. Regionale Unterschiede bestehen vor allem bei der Vokalisation.
Hörproben
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Betruf Appenzell Innerrhoden
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Chlausezäuerli Silvester Anno 2016 Haldeschuppel
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Rugguusseli Hobbysänger AppenzellEm Edmund Sis
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Toggenburger Naturjodel Gante-Jodel JK Ebnat-Kappel Lina Bösch
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Zäuerli Schötzechörli Stein Gebrüeder Meier Am Vorzaure
Zäuerli und Chlausenzäuerli als Sonderform im Ausserrhodischen, Rugguusseli im Innerrhodischen, Johlen im Toggenburg: Die Unterscheidung der regionalen Spielarten des Naturjodels ist für Aussenstehende – und manchmal sogar für gestandene Profis – nicht immer ganz einfach.
Am ehesten lässt sich vielleicht das Chlausenzäuerli, das die Chlausenschuppel vorwiegend im ausserrhodischen Hinter- und Mittelland zum Neuen und Alten Silvester singen, unterscheiden.
Das Chlausenzäuerli wird tendenziell in etwas lüpfigerem Tempo als die anderen Naturjodel vorgetragen.
Das Zäuerli, das Rugguusseli und das Johlen unterscheiden sich unter anderem in der Vokalisation. Die gejodelten Silben (z.B. jo, lo, tri, dü etc.) beeinflussen die Klangfarbe der verschiedenen regionalen Naturjodelformen. Sie lassen sich aber kaum trennscharf voneinander abgrenzen. Die Naturjodel rund um den Alpstein prägten sich schon immer gegenseitig.
Wer sich mit der Materie nicht auskennt, könnte meinen, ein Naturjodel töne wie der andere. Erfahrene Jodlerinnen und Jodler können anhand von Formverlauf und Struktur der Melodie eines Naturjodels unter Tausenden erkennen, um welches Stück es sich handelt. Dies erfordert spezielle Techniken der Verinnerlichung.
Im Rahmen eines Forschungsprojekts sind Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler der Hochschule Luzern der Frage nachgegangen, wie Jodlerinnen und Jodler Naturjodelmelodien lernen, im Gedächtnis speichern, unterscheiden und abrufen. Aus der Forschung resultierte ein Buch und ein 40-minütiger Film. Hier mehr erfahren.
Klangbeispiele
Vorjodler
Nohfahrer
Tenor
Bass
Naturjodel "S'Lozärner Grüässli" von Frowin Neff.
Der Komponist hat alle Stimmen selbst eingesungen.
Button anklicken um zu starten oder zu stoppen.
Ratzliedli
Necken und Spotten können sie, die Menschen rund um den Alpstein: Ratzliedli sind eine Spezialität der Region. Die teils deftigen Strophen werden oft mit einem kurzen Naturjodelteil abgerundet.
Ratzliedli oder Lompenstöckli werden vorwiegend – aber nicht ausschliesslich – in Appenzell Innerrhoden gesungen. Die Strophen dieser kurzen, eingängigen Spass- und Spottgesänge bestehen oft aus zwei- oder vierzeiligen Reimen. Die Dialekt-Texte sind humorvoll und nicht selten mit deftigen Worten und Pointen versehen. Zwischen den Strophen und am Schluss folgt in der Regel ein kurzer Naturjodelteil, der die Melodie der Strophe wiederholt.
Die Ratzliedli werden meist in geselliger Runde, an Tanzanlässen oder Stobeten gesungen, oft noch zu später Stunde. Besonders einprägsame
Reime halten sich über Generationen. Manchmal werden die Strophen auch ad hoc improvisiert. Vom heimlichen Liebeswunsch über politischen Spott bis zum Nonsens dem reinen Wortspiel zuliebe ist alles möglich.
Erste Ratzliedli sind bis zurück ins 18. Jahrhundert dokumentiert. Die bäuerliche Tradition galt wegen ihrer «räässen» Ausdrucksweise in bürgerlichen Kreisen bis ins 19. Jahrhundert als unanständig und anstössig. Mit dem aufkommenden Alpentourismus und der romantischen Verherrlichung sennischen Lebens ging auch die Verschriftlichung der Ratzliedli-Kultur einher.
Zur Dokumentation von Joe Mansers Feldforschung über die Ratzliedli ist 2007 auch ein kleinformatiges Büchlein erschienen. «Ratzliedli för en Hosesack» enthält über 600 Textstrophen und 37 Melodien
zum Mitnehmen, Nachschauen, Mitsingen und «loschtig haa». Hier kann das kleine Büchlein (nur Texte) oder das vollständige Notenheft bestellt werden.
Singlosi vom 23. Juni 2023 im Roothuus Gonten
Eine weitere besondere Form des Naturjodels ist der Kuhreihen. Er ist ein sennischer Lockruf oder Lockgesang für das Vieh und zugleich ein Lobgesang auf den wertvollsten sennischen Besitz, die Kühe. Er kann Textelemente enthalten. Aus dem Kuhreihen entwickelte sich offenbar der Löckler, der entwicklungsgeschichtlich zwischen dem Kuhreihen und dem Naturjodel steht.
Schölle ond Becki
Alltagsgegenstände rund um Haus und Hof wie Schellen und tönerne Milchbecken haben nicht nur einen praktischen Nutzen. Ihr Klang kann sich in Musik verwandeln.
Schellen
Kuh- und Geissenglocken sind seit je fester Bestandteil des sennischen Arbeitsalltags. Kein Wunder also, hat sich ihr Klang auch in der Volksmusik rund um den Alpstein etabliert.
Das Handwerk des Schellenschmieds kennt man bereits seit über 300 Jahren. Jede Schelle ist ein Unikat, welche ihren eigenen Klang hat und in liebevoller Handarbeit hergestellt wurde. In der Region rund um den Alpstein spielen die Schellen und Rollen bei Alpfahrten und Silvesterchlausen (Kanton Appenzell Ausserrhoden) eine wichtige Rolle. Die verschiedenen Schellen werden im Gegensatz zu Glocken nicht gegossen, sondern aus Stahlblech geschmiedet.
Vor allem die Herstellung der Senntumschellen verlangt dem Schellenschmied ein grosses handwerkliches Geschick ab. Senntumschellen werden zuerst handgeschmiedet und anschliessend mittels einer sehr alten Methode, in einem Lehmmantel gehüllt, feuervermessingt. Nach der Abkühlung werden die Schellen poliert und in der Stimmung nachjustiert.
Talerbecken
Oft kopiert und doch einzigartig: Das Talerschwingen ist eine Eigenheit der Region rund um den Alpstein. Es wird, wie das Schellenschötten, als Bordunklang eingesetzt.
Eine grosse Münze, einst ein Taler, heute ein Fünfliber – idealerweise der alte silberne – wird auf der Schmalkante in ein gebranntes Tonbecken zum Rundlauf eingeworfen und durch leichtes Schwingen des Beckens in Bewegung gehalten. Drei aufeinander abgestimmte Talerbecken ergeben so einen Bordun-Dreiklang für ein sogenanntes Beckenzäuerli oder Beckenrugguusseli. Das Talerschwingen erfordert Geschick und Übung.
Talerschwingen-Kurs
Holztrichter
Ein weiterer Alltagsgegenstand, der als musikalisches Hilfsmittel dient, ist der grosse Holztrichter. Er kommt beim sennischen Betruf als eine Art natürlicher Verstärker zum Einsatz.
gespielte Naturjodel
Naturjodel werden nicht nur gesungen, sondern auch mit Instrumenten gespielt. Dafür charakteristisch sind die Appenzeller Streichmusikformationen und die Stegräf-Gruppen mit ihren Blasinstrumenten.
In historischen Quellen werden erstmals Saiteninstrumente als typisch für die Appenzeller Tanzmusik erwähnt. Bereits um etwa 1800 dürfte sich die «altfrentsche» Dreierbesetzung mit Geige, Hackbrett und Bassgeige als Standard-Formation für die Appenzeller Tanzmusik durchgesetzt haben. Um 1900 hat sich die «Original Appenzeller Streichmusik» in der Region etabliert, die das altfrensche Trio um eine weitere Geige sowie ein Cello zum Quintett ergänzt.
Eine weitere Eigenart der Appenzellermusik ist der Stegräf, eine ausschliesslich aus Blasinstrumenten zusammengesetzte Formation, die auch Naturjodel intoniert. Beim «echten» Stegräf ist einzig die Melodie vorgegeben. Die Begleit- und Bordunstimmen werden nach Gefühl und Gehör gespielt.
Weitere Informationen zur typischen Instrumentierung der Appenzeller Musik gibt es hier
Hörstation
Naturjodel
Hörstation
Startknopf drücken und mit Regler einzelne Spuren mischen.
«A de Vechschau» von Josef Rempfler,
Engelchörli Appenzell und Stegreifgruppe Gonten
Stegreif
Startknopf drücken und mit Regler einzelne Spuren mischen.
«A de Vechschau» von Josef Rempfler,
Engelchörli Appenzell und Stegreifgruppe Gonten
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